Der Sinn des Sterbens

Laura Mohacsi

„Und wenn wirklich mein Leben nicht das richtige gewesen ist? Ihm kam der Gedanke, daß das, was ihm bisher noch als vollkommen unmöglich erschienen war: Er hätte so gelebt, wie er nicht hätte leben sollen – daß das die Wahrheit sei.“

Kaum jemand bringt das Phänomen retrospektiver Neubewertung des eigenen Lebenswegs angesichts des nahenden Todes so eindrücklich und präzise auf den Punkt wie Tolstoi in seiner Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“. Auf seinem Sterbebett durchläuft Iwan Iljitsch eine dramatisch qualvolle Selbstreflexion und muss sich nicht minder schockiert wie widerwillig eingestehen, dass er sein Leben verwirkt hat, seine komplette Lebensgestaltung nichtig gewesen ist und er versagt hat, sein Leben an den richtigen Werten und Zielen auszurichten.

Dabei steht Tolstois Erzählung nicht allein. Die menschliche Vergänglichkeit ist seit jeher allgegenwärtig in Literatur und Kunst. Motive aus der Antike wie Memento Mori, Vanitas und Carpe Diem werden in literarischen Werken wie Hesses Steppenwolf oder Goethes Werther aufgegriffen und kommen in unterschiedlichen Epochen immer wieder in Mode – man denke nur an den mittelalterlichen Totentanz, die Vielzahl barocker Stillleben mit Totenkopfmotiven oder auch die Todesahnungen und Ewigkeitssehnsüchte aus der Romantik, die Maler wie Caspar David Friedrich auf der Leinwand verewigt haben. Die historisch kontinuierliche Präsenz dieser Motive in Kunst und Literatur verdeutlicht, dass das Bewusstsein um die eigene Sterblichkeit den Menschen schon immer beschäftigt hat. Es begleitet uns von klein auf, steckt den Rahmen unserer Biografien ab und erzwingt so ein stetiges Auswählen zwischen Zielen, Werten und Aktivitäten. Obwohl der eigene Tod auf diese Weise zwar eine Selbstverständlichkeit ist, scheint er aus der Perspektive eines betriebsamen Alltags jedoch oft ferne Zukunft zu bleiben. Zumindest solange, bis wir – aufgrund von Alter, Krankheit oder des Todes geliebter Personen – mit dem eigenen Tod konfrontiert werden.

So wie Iwan Iljitsch. Die Erzählung verdeutlicht nicht nur, wie mit dem Bewusstwerden der eigenen Sterblichkeit zuvor gesetzte Prioritäten und getroffene Werturteile gänzlich neu bewertet werden, sondern zeigt auch die soziale Bedeutung des Sterbens und des Reflexionsprozesses. So macht Iwan vorwiegend gesellschaftliche Normen für seine sinnverfehlenden Lebensentscheidungen verantwortlich, wobei diese Gedankengänge in seinem sozialen Umfeld kaum auf Verständnis treffen. Das Sterben des Iwan Iljitsch wird dadurch zu einer rein subjektiven Auseinandersetzung mit dem Tod. Schließlich ist es dieses Ausbleiben der sozialen Bearbeitung seines Sterbeprozesses, das Iwan in die spirituelle Isolation zwingt, die für ihn zu einem solch quälenden Faktor wird.

Auf die Relevanz der sozialen Dimension des Todes verweist auch der Philosoph Thomas Rentsch. Laut ihm leistet nicht nur das individuelle Bewusstsein um die eigene Endlichkeit einen wesentlichen Beitrag zur alltäglichen Sinnkonstitution. Vielmehr stellt die Unverfügbarkeit der Anderen eine notwendige Bedingung existenzieller Sinnkonstitutionen dar. Denn die Erfahrung unserer eigenen (leiblichen wie geistigen) Grenzen innerhalb kommunikativer Prozesse einerseits und des endgültigen Entzugs Dritter durch deren Tod andererseits sind nach Rentsch wesentlich für ein sinnhaftes Selbstverständnis. Der Umgang mit Tod und Verlust als interpersonale Erfahrung ist in der alltäglichen Lebenswelt immer kulturell strukturiert, demnach kommunikativ und sozial geteilt. Erst auf der Basis dieser intersubjektiven Komponente kann eine handlungsleitende und orientierungsstiftende Sinnkonstitution geschehen. Rentsch bezeichnet diese sinnstiftende Erfahrung der Unverfügbarkeit Dritter unter anderem durch deren Sterblichkeit als interexistenzielle Transzendenz, die die untrennbare Verschränkung von Endlichkeit und Sinn verdeutlicht.

Im Anschluss an diese Überlegung versteht Rentsch das Alter als Lebensphase, in der diese Verschränktheit von Endlichkeit und Sinn, Begrenztheit und Erfüllung erkennbar und einsichtig werden kann. Altern ist dann als selbstreflexiverProzess zu verstehen, der jedoch nie in individueller Isolation, sondern immer erst kommunikativ möglich wird. Betrachtet man nun Iwan Iljitschs Krankheitsverlauf als Altern im Zeitraffer, so fällt auf, dass zwar eine intensive Selbstreflexion stattfindet, der kommunikative Teil jedoch ausbleibt. Hierin liegt das eigentlich Tragische von Tolstois Erzählung: dass Iwan zwar aus seinem Sterben lernt, seine Erkenntnis aber mangels Interesses seines sozialen Umfeldes mit ins Grab nehmen muss. Somit bleibt bei Iwan Iljitsch zwangsläufig aus, was Rentsch als die positiven Aspekte der „Ganzwerdung“ bezeichnet und als philosophische Erkenntnis-Chance des Alter(n)s entwirft.

Doch müssen wir uns vor diesem Hintergrund – um, salopp gesprochen, unsere Gesellschaft nicht zum kollektiven Iwan Iljitsch mutieren zu lassen – nicht fragen, was Altern für unsere Kultur eigentlich bedeutet? Rentsch legt nahe, die gesellschaftliche Frage nach dem Umgang mit älteren und alten Menschen umzudrehen, und stattdessen zu überlegen, was wir gesellschaftlich vom Altern und der Präsenz von immer mehr älteren und auch immer älteren Personen lernen können. Dazu sei es nötig, sich nicht nur innerhalb von Optimierungs- und Steigerungslogik als machtvolle Subjekte der Produktion und Konsumption zu verstehen, sondern sich auch in der eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit wahrzunehmen.

Dass das Alter gerade durch seine Nähe zum Tod als Nährboden für philosophische Erkenntnisse konzipiert wird, steht allerdings im Kontrast zu einigen empirischen Befunden. So bestehen beispielsweise Hinweise darauf, dass das Älterwerden immer weniger als Chance auf persönliche Weiterentwicklung durch die Reflektion der eigenen Vergänglichkeit empfunden wird. Stattdessen besteht ein wachsender Trend zum „aktiven“ oder „erfolgreichen Alter(n)“ mit dem Anspruch defizitorientierte Leitbilder des Alterns zu überwinden und sich stattdessen der Orientierung an Ressourcen und Potenzialen des späteren Lebens zu verschreiben. Dadurch sollen das Altern als Prozess und das Alter als Lebensphase optimiert werden – auch unter Rückgriff auf medizinische und technologische Unterstützung. Statt der Besinnung auf die eigene Verletzlichkeit und Vergänglichkeit stehen hier Leistungs- und Steigerungslogik im Mittelpunkt. Damit scheint die Unverfügbarkeitserfahrung, die Rentsch in den Mittelpunkt der Sinnkonstitution rückt, gesellschaftlich zu etwas zu werden, das es zu vermeiden gilt.

Doch wie können wir Fragen nach dem guten Leben im Alter auch dann noch beantworten, wenn sich ein „Sinn des Lebens“ nur durch eine Unverfügbarkeitserfahrung konstituieren lässt, die gesellschaftlich zunehmend vermieden wird?

Um dieser Frage beizukommen, darf man wohl die Idee des Alterns als eines Prozesses philosophischen Erkenntnisgewinns nicht vorschnell als romantisierte Vorstellung verwerfen. Denn auch modernere Vorstellungen vom Alter(n) lassen sich nicht loslösen davon, dass Altern immer auch ein Näherrücken des Sterbens und des Todes bedeutet, und diese Nähe beeinflusst unsere individuellen Wertsetzungen, Prioritäten und Präferenzen genauso wie unsere soziale Einbindung und unsere Kommunikation. Es eröffnet sich ein Spannungsfeld zwischen erkenntnisbringender Unverfügbarkeit und Optimierung, das sich in der Praxis insbesondere im Kontext medizinischer Maßnahmen oft als Abwägung zwischen Lebensqualität und Lebensverlängerung äußert. Solche Spannungsfelder stehen jedoch nicht für sich, sondern im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen; das Leben im Alter und letztendlich auch das Sterben müssen gesellschaftlich verhandelt werden. Gegenstand solcher Verhandlungen sind verschiedene Altersbilder, die die normativen Ideen dieser Spannungsfelder bündeln und auf ein alltagstaugliches Kommunikationsniveau herunterbrechen.

Möchte man verstehen, wie sich die Vorstellungen guten Lebens im Alter auf die medizinische Versorgung älterer Menschen auswirken und umgekehrt, so ist es nötig, ein empirisch gestütztes, differenziertes Verständnis aktuell bestehender individueller und gesellschaftlicher Altersbilder zu entwickeln.

Kommentare

Ein sehr interessanter Beitrag, der viele Aspekte zum Älterwerden und Sterben zusammenbringt!

"Um dieser Frage beizukommen, darf man wohl die Idee des Alterns als eines Prozesses philosophischen Erkenntnisgewinns nicht vorschnell als romantisierte Vorstellung verwerfen. Denn auch modernere Vorstellungen vom Alter(n) lassen sich nicht loslösen davon, dass Altern immer auch ein Näherrücken des Sterbens und des Todes bedeutet (...)" Beim Lesen dieser Passage ist mir direkt ein kurzer Dokumentarfilm aus der Zeitschrift "The Atlantic" ins Gedächtnis gesprungen. Darin wird der Philosoph Herbert Fingarette mit 97 Jahren von seinem Enkel filmisch begleitet. Im Zentrum steht hierbei eben jener angesprochene Umgang mit dem näher rückenden Sterben. Besonders interessant ist hierbei, dass Herbert Fingarette seine eigene, viele Jahre zuvor publizierte Position zum Tod in "Death: Philosophical Soundings" neu evaluiert und im Allgemeinen darüber spricht.

Die Dokumentation ist sehr empfehlenswert: https://www.theatlantic.com/video/index/604840/being-97/

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