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Zeitlichkeit und gutes Leben

Das Teilprojekt versteht sich als philosophische Grundlagenreflexion auf das Rahmenthema der Forschungsgruppe (FOR). Es versucht, allgemeine Einsichten in die Zeitstruktur menschlichen Lebens und in die temporalen Bedingungen für ein individuell gutes Leben zu gewinnen. Diese Einsichten sollen einerseits dem besseren Verständnis der Auswirkungen medizinischer Innovationen auf den Umgang mit der eigenen Lebenszeit dienen, andererseits aber auch selbst an Beobachtungen zu den medizinischen Anwendungsszenarien, von denen die FOR exemplarisch ausgeht, geschärft, modifiziert und ggf. revidiert werden.

Systematisch geht es dem Teilprojekt erstens darum, im Austausch mit allen anderen Teilprojekten ein Verständnis der Rede vom „guten Leben“ zu umreißen, das sich auf der Höhe der philosophischen Fachdiskussion bewegt und zugleich für die Untersuchungsgegenstände der Teilprojekte jeweils zugeschnitten und operationalisierbar gemacht werden kann. Anders als in der einschlägigen Literatur zu Fragen des guten Lebens sollen dabei von Anfang an Überlegungen zu den Zeitdimensionen des menschlichen Lebens einbezogen werden. Zweitens sollen im Teilprojekt diese zeitlichen Dimensionen differenziert und in ihrem Zusammenhang dargestellt werden. Leitend ist dafür die These, dass wir unser Leben nicht nur in der Zeit führen, sondern der Lebensvollzug selbst eine eigene Zeitstruktur hat. Drittens werden im Teilprojekt Vorschläge für das Verständnis der Zeitstruktur speziell eines guten Lebens entwickelt. Dies geschieht in Form von Thesen zu einem gelingenden Umgang mit der Zeit des eigenen Lebens, die im Austausch mit den anderen Teilprojekten und angesichts neuer medizinischer Möglichkeiten auf ihre empirische Plausibilität geprüft werden sollen.

Der Leiter des philosophischen Teilprojekts, Prof. Dr. Holmer Steinfath, arbeitet an einer systematischen Studie zu „Zeit und gutes Leben“. Sie geht von der Beobachtung aus, dass in den hauptsächlich in der analytischen Philosophietradition stehenden Debatten zum guten Leben und verwandten Themen wenig auf die fundamentale Rolle der Zeitlichkeit des Lebens reflektiert wird. Um dieses Defizit zu beheben, erscheint eine Aufnahme von nicht-analytischen Theorien zur Zeitlichkeit der menschlichen Existenz angezeigt. Diese bedienen sich jedoch oft einer fragwürdigen Theoriesprache und reflektieren ihrerseits zu wenig auf ihre impliziten normativen und evaluativen Annahmen zu einem gelungenen Leben. Die Studie soll so auch einen Beitrag zur Überbrückung der Gräben zwischen verschiedenen Philosophietraditionen leisten. Dafür wird sie auf die enge Zusammenarbeit mit Anne Clausen, der Mitarbeiterin im philosophischen Teilprojekt, angewiesen sein. Der von Beginn an erfolgende Einbezug von temporalen Lebensdimensionen in das Nachdenken über Bedingungen für ein gutes Leben verspricht den gegenwärtigen analytischen Debatten zum guten Leben einen neuen Impuls geben. So könnten sich beispielsweise verbreitete Gegensätze von subjektivistischen und objektivistischen Ansätzen des für eine Person guten Lebens als verkürzt erweisen, wenn die Temporalität des menschlichen Lebens hinreichend bedacht wird. Mit Blick auf Zeitlichkeitskonzeptionen wiederum fällt die Fixierung auf wenige Zeitdimensionen auf. Meist wird ganz auf die Trias von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft abgehoben, die natürlich zentral bleibt. Gerade im Horizont von Fragen des guten Lebens sind jedoch viele andere Zeitaspekte ebenfalls relevant. Dazu gehören zum Beispiel die Irreversibilität vieler Lebensvollzüge, deren Altersabhängigkeit, die Rolle biologischer Rhythmen, Formen von Synchronisation und Desynchronisation mit und von der Zeit der anderen, die spezifische Temporalität alltäglicher Routinen und die Einbettung der Einzelnen in generationenübergreifende Geschichten. Für die Vielfalt solcher Zeitaspekte dürfte nicht zuletzt der Austausch mit den stärker empirischen Teilprojekten der Forschungsgruppe sensibilisieren. Bei dem Bemühen, allgemeine positive Aussagen zur Zeitlichkeit eines guten Lebens zu treffen, orientiert sich der Teilprojektleiter gegenwärtig an der metaphorischen Leitidee eines Einklangs mit der Zeit des eigenen Lebens und dem der anderen. Die Frage ist, wie diese Idee in einer nicht-metaphorischen Weise ausbuchstabiert werden kann.

Die Mitarbeiterin des philosophischen Teilprojekts, Anne Clausen, arbeitet im Rahmen einer historisch-systematisch angelegten Studie Zeitlichkeitskonzeptionen im Umkreis von Phänomenologie, Lebens- und Existenzphilosophie im Hinblick auf die Frage nach dem Gelingen menschlicher Existenz auf. Im Gegensatz zu der analytisch geprägten Literatur zum guten Leben nimmt Zeit in den Subjektivitätsauffassungen dieser Theorietraditionen oftmals eine zentrale Stellung ein. Charakteristisch für Autoren wie Bergson, Heidegger, Sartre und Levinas ist dabei zudem die Abgrenzung von einem formalen Verständnis der Zeit als Folge von Jetzt-Momenten oder als Anschauungsform des menschlichen Verstandes. Der Rückgriff auf ihre heterogenen Versuche, die Zeit als den „Stoff“ aus dem unser Leben besteht begreiflich zu machen, soll dazu dienen, das Repertoire zeitlicher Dimensionen zu erweitern und zu differenzieren. Zu einem solchen erweiterten Repertoire gehört neben der Zeitlichkeit von Lebensvollzügen und -entscheidungen und zwischenmenschlichen Beziehungen zum Beispiel auch die zeitliche Struktur von Krisen, Übergängen und Konversionen, wie sie gerade auch im Kontext von Krankheit und medizinischen Eingriffen relevant werden. Ziel der Studie ist die Ausarbeitung von Facetten einer nicht-formalen Zeitlichkeit, die es gestattet, die Freiheit und Kreativität, aber auch die Endlichkeit und Ausgesetztheit menschlichen Lebens zeitlich zu fassen. Ausgehend von der Einsicht, dass die zeitliche Struktur des individuellen Lebens eine unmittelbare Relevanz für sein Gelingen oder Misslingen hat, liegt das besondere Interesse der Arbeit darin, diese existenziell bedeutsame Zeitlichkeit im Hinblick auf ihre normativen und evaluativen Implikationen zu durchleuchten. So kann das traditionelle Verständnis des guten Lebens als eines Zustandes der „Einheit mit sich“ durch die Deformalisierung der Zeit, die zugleich eine Deformalisierung des Subjekts durch die Zeit ist, eine Revision erfahren.

Projektleiter:Prof. Dr. Holmer Steinfath
Projektmitarbeiterin:Dr. Anne Clausen
Studentische Hilfskraft:Nina Reinfelder B.A.