Kairos
Claudia WiesemannKairos
Ein heftiger Regenguss bringt sie zusammen: Katharina, 19 Jahre alt, und Hans, Mitte 50, werden durch einen kräftigen Schauer gezwungen, von ihrer täglichen Wegroutine abzuweichen. Ihre Blicke treffen sich erst im Bus, dann unter der Brücke, wo sie Schutz suchen. Danach können sie voneinander nicht mehr lassen. Ihre Liebe ist tief und unabweisbar – trotz aller lebenspraktischen Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen. Denn sie ist noch jung und auf der Suche nach ihren Lebenszielen, er dagegen schon lang im künstlerischen Establishment der DDR angekommen, verheiratet mit Kind. Es sind die letzten Jahre der DDR, und obwohl vieles nur noch abwärts zu gehen scheint, ist ihre glückliche Fügung, ihr Moment, in dem alles richtig zu sein scheint, gerade gekommen. Sie feiern das Datum, ihren persönlichen Glücksmoment, erst monats-, dann jahresweise.
Doch in das Glück schleichen sich langsam Zweifel, Misstrauen, Angst. Weniger und weniger glaubt er, auf eine Zukunft mit ihr noch vertrauen zu können – sie hingegen kann sich eine Zukunft ohne ihn nicht vorstellen. Dem Augenblick, der sie aneinander gekettet hat, können sie nun nicht mehr entrinnen. Sie quälen sich durch tiefe Depression. Selbst der Fall der Mauer, in so vielen Geschichten als glückliche Fügung interpretiert, bringt für sie nurmehr bleierne Düsternis. Er verliert nicht nur Arbeit, sondern auch jegliche Reputation. Sein Alter wird plötzlich unübersehbar, denn sein überzeugter Sozialismus hat Wurzeln noch in einer Jugend im Nationalsozialismus. Sie dagegen könnte zwar unbefangen den Aufbruch in das neue Zeitalter wagen, kann aber den Schmerz über die Entmachtung des Mannes in ihrem Leben nicht vergessen.
Jenny Erpenbeck erzählt die Geschichte eines Moments und seiner Folgen. Aus Katharinas und Hans‘ Perspektive lässt sie uns teilhaben an den vielen Facetten der Zeit: den glücklichen und den unglücklichen Momenten, der himmelhochjauchzenden und der bleiernen Zeit, einer Zeit, die alles möglich erscheinen lässt und einen zugleich in Ketten schlägt.
Für ihren Roman „Kairos“ erhielt Jenny Erpenbeck 2024 den International Booker Prize.
Bildbeschreibung:
Kairos, Museo di Antichità (Turin), Quelle: Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kairos_di_Torino.png
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