Risikofaktor Weihnachtszeit - von Genuss und gutem Leben
Lena StangeMit Weihnachten ist es wie mit dem guten Leben: Die Menschen wünschen sich, dass es schön wird. Rund, ausgeglichen, ja, erfüllt soll es sein. Wenig Stress möchte man haben und die eigenen Sehnsüchte erfüllt wissen.
Bei genauerem Hinsehen tut sich aber eine Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit auf. Für die meisten Menschen spätmoderner kapitalistischer Gesellschaften ist die Weihnachtszeit mit Hektik verbunden: In den Wochen vor dem Fest soll noch möglichst viel „im alten Jahr“ erledigt und für die Feiertage vorbereitet werden. Was sollen wir essen, was ziehe ich an, was können wir der kleinen Nichte schenken („sie hat doch schon so viel“) und was dem Schwiegervater („er hat doch schon alles“)? Dabei wünschen sich die meisten Erwachsenen doch sowieso immer nur Gesundheit, wenn man sie nach einem Wunsch fragt.
Und mit der Gesundheit ist das so eine Sache, besonders zu Weihnachten. PubMed, die größte bibliografische Datenbank medizinischer Publikationen, liefert zum Stichwort „Christmas“ 3.352 Treffer. Wer in den Studien etwas stöbert, findet schnell, dass „christmas effects“ bereits verschiedentlich untersucht und diskutiert wurden: Es ist von Herzinfarktrisiken und Diabetes die Rede, von erhöhten Schlaganfall- und Sterberaten und von der Chronobiologie weihnachtlicher Ernährungsgewohnheiten.
Aus lebensweltlicher Sicht scheint der weihnachtliche Risikofaktor Nummer eins für die Gesundheit hingegen unangefochten der vermehrte Kalorienkonsum zu sein. Da lohnt es sich vielleicht, einmal auf die Menschen zu schauen, die eine hedonistische Lebensführung pflegen. Wer im Leben vor allem auf hedone (ἡδονή: Freude, Lust, Vergnügen) aus ist, setzt vermutlich auch für die Feiertage Glücksgefühle und Genuss an die erste Stelle seiner Wunschliste und sucht zugleich Unlust und Gram zu vermeiden. Ein allzu ausschweifender Hedonismus kann durchaus als selbstwidersprüchlich gelten: Er vermag zwar momentan zu Glücksgefühlen, auf Dauer jedoch nicht zu einem guten Leben führen. So mahnt bereits die antike Glücksethik, klug und vorausschauend das richtige Maß des Genusses zu bestimmen. Und Genuss, das konnten Medizin und Gesundheitswissenschaften bereits hinlänglich nachweisen, ist auch ein wichtiger Bestandteil von Wohlbefinden und damit förderlich für die Gesundheit. Viele Menschen versagen sich jedoch genussvolle Momente wie Ruhepausen bei guter Musik oder einer süßen Leckerei. Das Bedürfnis, sich solche Sinnesfreuden zu verbieten, scheint in den vier Wochen vor Weihnachten noch größer zu sein als in den restlichen elf Monaten des Jahres - ebenso jedoch auch die Verlockung. Dabei ist es doch genau dieser Blick auf das Hier und Jetzt, möglichen Nascherei-bedingten Gewissensbissen zum Trotz, der viele Hedonisten antreibt. Der Schlüssel könnte also vielleicht darin liegen, dass sich nicht in der akribischen Planung und Vorbereitung der anstehenden Weihnachtstage, begleitet von Zurückhaltung und Verzicht, sondern in der Einmaligkeit genau dieses Zeitraumes der Genuss entfaltet, so man ihn lässt.
Jedes Jahr ist schon wiederbald Weihnachten. Die vorweihnachtliche Versinnbildlichung von Zeitlichkeit ist das sukzessive Anzünden der vier Adventskerzen, deren Schein ein Verlangsamen und Innehalten einfordert und ermöglicht. Da ist es doch einen Versuch wert, mit einer hedonistischen Einstellung in die Feiertage zu gehen und zu versuchen, in einem für sich selbst angenehmen Umfeld das Richtige zu finden. Vielleicht kann auf diese Weise mit etwas Entschleunigung dem immer so plötzlich auftretenden Weihnachten begegnet werden.
Und sollte trotz perfekter Planung das Geschenk nicht richtig oder die Weihnachtsgans verbrannt sein, besteht immer noch die Chance auf ein gutes Dessert. Manchmal muss man das gute Leben einfach auf sich zukommen lassen.
Frohe Weihnachten!
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