Das Gewicht der Zeit

Claudia Wiesemann

Ein Nashorn schwebt im Einkaufszentrum von Brescia über den Köpfen von Kindern. Es hängt dort mit seinem beachtlichen Gewicht in luftiger Höhe und an dünnen Seilen. Beim Blick nach oben registriert man es mit Beklemmung und angehaltenem Atem. „Il peso del tempo sospeso“ hat der Künstler Stefano Bombardieri seine Installation genannt, „Das Gewicht der angehaltenen Zeit“. Das Adjektiv „sospeso“ ist ein Wortspiel, weil es nicht nur angehalten, sondern auch „aufgehängt“ bedeutet. In seiner Installation scheint greifbar zu werden, was wir normalerweise nicht spüren können: Zeit. Zeit verrinnt meist unmerklich. Nur beim Blick nach oben zum Nashorn wird die Macht der Zeit und die Fragilität des Moments offenkundig. Denn manchmal ist ihr Gewicht mit voller Wucht zu spüren.

Ein Augenblick kann alles in unserem Leben ändern. Von einem Moment auf den anderen können wir in ein neues Leben geschleudert werden, in dem alles anders ist als vorher. So jedenfalls sprechen Menschen oft über ihre Krankheit, über den Augenblick der ersten Diagnosestellung, in dem ihnen die Bedeutung der ärztlichen Worte für ihr Leben klar wurde. Plötzlich muss das Leben in seiner Gänze neu gedacht, neu justiert, neu bewertet werden. „Ich habe eine schwere Herzkrankheit – aber ich bin doch noch viel zu jung!“ „Ich kann keine Kinder bekommen – was wird jetzt aus meinen Lebensplänen?“ „Ich soll morgen schon zur Untersuchung ins Krankenhaus – aber will ich das in meinem Alter noch?“

Solche Momente legen offen, was wir als ‚gutes Leben‘ bezeichnen. Es sind unsere oft wenig reflektierten, aber dennoch hochwirksamen Vorstellungen von den richtigen, angemessenen Ereignissen und Phasen im Leben eines Menschen. Unsere Erwartungen an das, was wir im Leben sein, vorstellen, erreichen wollen und wann das der Fall sein soll. Vorstellungen, die wir mit anderen Menschen teilen, ohne uns dessen bewusst zu sein. Vorstellungen, denen nicht selten auch die Ärztinnen und Ärzte anhängen, die uns behandeln.

Doch neue medizinische Technologien können diese Vorstellungen über den Haufen werfen. Mit dem Fortschritt der medizinischen Entwicklung werden gewohnte Ordnungsmuster veränderbar, vertraute Verlaufsstrukturen aufgelöst. Wie wir mit Krankheit leben, wann wir unsere Kinder bekommen, ja, sogar wann wir sterben, kann so den Individuen als Entscheidung überantwortet werden. Woran sollen sie sich dabei orientieren? Planung soll Schicksal ersetzen. Aber wenn es nicht nur ein gutes Leben, sondern viele Formen guten Lebens gibt: Welches soll man wählen?

Mit diesen Fragen befasst sich die DFG-Forschungsgruppe „Medizin und die Zeitstruktur guten Lebens“. Willkommen zu unserem Blog!

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