The Decisive Moment

Kevin Kepa

Der Ausdruck the decisive moment hat in der Welt der Fotografie Kultstatus. Geprägt hat ihn Henri Cartier-Bresson mit einer Fotomonografie Anfang der 1950iger Jahre. Der Originaltitel der französischen Erstveröffentlichung lautete Images à la Sauvette und wurde (nach langem Ringen) von Cartier-Bresson im Englischen als The Decisive Moment übersetzt.

Eines der wohl bekanntesten Beispiele für einen festgehaltenen decisive moment ist das Bild Behind the Gare Saint-Lazare, Paris, 1932 von einer über eine Pfütze springenden Person, die sich im Wasser spiegelt. Ein anderes bekanntes Beispiel ist Steve McCurrys Foto Boy in Mid-Flight, Jodhpur, India 2007, das einen durch eine enge Gasse eilenden Jungen zeigt.

Beide Bilder verbindet, dass sie drei wichtige Aspekte der Dokumentar- beziehungsweise Straßenfotografie veranschaulichen, nämlich Beobachtungsgabe, Geduld und Aufmerksamkeit. Es sind Beispiele dafür, dass mit ein wenig Verständnis der vorliegenden Möglichkeiten und Rahmenbedingungen decisive moments antizipiert werden können.

Diese Aspekte verbindet, dass nicht direkt in das Geschehen eingegriffen wird. Dennoch erkennt ein in diesen Aspekten geschultes Auge einzelne Bausteine in einer (alltäglichen) Lebenssituation, sodass ein darin enthaltener decisive moment fotografisch festgehalten werden kann. Die Fotografie lenkt somit unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass decisive moments uns ständig umgebende Phänomene sind. Es braucht den richtigen Ort zur richtigen Zeit, aber vor allen Dingen die Aufmerksamkeit, diese Momente auch bei all dem Überfluss an tagtäglichen Reizen wahrzunehmen, ja zu antizipieren. Mir selbst ist ein solcher Moment im Zuge meiner Fotografie bereits begegnet, als ich in Göttingen fotografierte und zur richtigen Zeit am richtigen Ort aufmerksam genug war, das angefügte Bild zu schießen.

Die Aspekte und Überlegungen innerhalb der Dokumentar- und Straßenfotografie zum decisive moment lassen sich aber weit über die Disziplin hinausdenken. Beobachtungsgabe, Geduld und Aufmerksamkeit sind nicht nur Aspekte, die eine gute Fotografie ermöglichen. Auch im Umgang mit Zeitlichkeit und für Überlegungen zu einem guten Leben sind diese Aspekte möglicherweise interessant.

Wir Menschen stehen doch immer wieder vor Erlebnissen und Entscheidungen, die man als decisive moments bezeichnen könnte. Gerade in gesundheitlichen Fragen ist dies häufig der Fall, so etwa bei einer Entscheidung für oder wider eine schwierige Operation oder dem erstmaligen Auftreten einer chronischen Erkrankung.

Innerhalb der DFG-Forschungsgruppe „Medizin und die Zeitstruktur guten Lebens" wird interdisziplinär daran geforscht, solche Momente im medizinischen Kontext, solche decisive moments im Leben von Patientinnen und Patienten zu analysieren und ihre Bedeutung für ein gutes Leben in der Zeit aufzuzeigen. Hierbei zeigt sich deutlich: Ein gesundheitlicher Einschnitt im Laufe des Lebens ist nicht zwangsläufig allein mit Entbehrungen verbunden. Auch in widrigen Umständen können sich Bausteine eines guten Lebens in der Zeit entdecken lassen. Möglicherweise können die Aspekte der Dokumentar- und Straßenfotografie gerade hierfür hilfreich sein. Auch unter schwierigsten Umständen begegnen einem immer wieder „kleine Dinge“, die einem Freude bereiten können. Ob in zwischenmenschlichen Beziehungen oder den Zufälligkeiten eines Tages, aus der Betrachtung eines bestimmten Blickwinkels können viele „kleine Dinge“ zusammengenommen ein gutes Leben eines Menschen anzeigen und erkennbar werden lassen.

Kommentare

Keine Kommentare

Kommentar schreiben

* Diese Felder sind erforderlich